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Anders denken, anders fühlen, anders arbeiten – Die Herausforderungen neurodivergenter Menschen im Beruf

  • Autorenbild: Sonja Rosenbaum
    Sonja Rosenbaum
  • 3. Nov.
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 13. Nov.


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Neurodivergente Menschen – also Personen mit besonderen kognitiven oder emotionalen Verarbeitungsweisen, etwa im Kontext von ADHS, Autismus und/oder Hochbegabung – nehmen die Welt oft auf eine besondere Weise wahr. Dabei ist wichtig darauf hinzudeuten: Nicht alle neurodivergenten Menschen erleben dieselben Herausforderungen oder reagieren auf ähnliche Weise. Neurodivergenz beschreibt kein einheitliches Muster, sondern eine Vielfalt unterschiedlicher Wahrnehmungs- und Denkstile.

Viele dieser Menschen denken schneller, fühlen intensiver, beobachten genauer – und erleben dadurch sowohl große Stärken als auch besondere Belastungen im beruflichen Alltag. Ihre Art, die Welt zu verstehen und zu strukturieren, kann zu außergewöhnlicher Kreativität und Problemlösefähigkeit führen, erfordert aber häufig auch ein hohes Maß an Selbstregulation und Anpassung, wenn Arbeitsumgebungen wenig Flexibilität oder Verständnis für unterschiedliche Denkweisen bieten.

Diese Art des Denkens entfaltet sein Potenzial nur dann, wenn es Resonanzräume findet. Viele dieser Denkprozesse bewegen sich auf einer hohen Abstraktions- und Vernetzungsstufe, die für andere ungewohnt oder irritierend wirken kann. Gedanken werden schneller, komplexer oder sprunghafter formuliert, als das Umfeld sie einordnen kann. Fehlt diese Resonanz – also ein Gegenüber, das ähnliche kognitive Muster erkennt, anschließen kann oder die Logik dieser Abstraktionen versteht – bleiben solche Denkbewegungen oft unsichtbar. Nicht, weil sie unklar wären, sondern weil sie außerhalb der gewohnten Wahrnehmungs- und Deutungsroutinen der anderen liegen. Dadurch gelingt es neurodivergent denkenden Menschen häufig nicht, ihre gedankliche Tiefe oder ihr innovatives Potenzial wirklich zu vermitteln, obwohl es vorhanden und wertvoll ist.


Zwischen Wahrnehmungsintensität und Anpassungsdruck

Das Arbeitsleben ist meist auf Durchschnittlichkeit und Routine ausgerichtet: klare Strukturen, hierarchische Abläufe, standardisierte Prozesse. Für neurodivergente Menschen kann genau das zur täglichen Belastungsprobe werden. Ihr Nervensystem reagiert oft sensibler auf äußere und soziale Reize – Geräusche, Unklarheit, Ungerechtigkeit oder Spannungen im Team. Wo andere Distanz wahren, nehmen sie feine Nuancen wahr: den unausgesprochenen Tonfall, ein abwertendes Verhalten oder unterschwellige Ungerechtigkeiten. Diese hohe Sensitivität ist neurobiologisch erklärbar – sie hängt mit einer intensiveren Aktivierung der Amygdala und einer feineren sensorischen Verarbeitung zusammen (vgl. Aron, 2012; Roth, 2017).


Wenn Sinn und Gerechtigkeit fehlen

Viele neurodivergent denkende Menschen haben ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit und Gerechtigkeit. Sie wollen verstehen, warum etwas getan wird, und engagieren sich mit voller Energie, wenn sie überzeugt sind. Monotone, rein formale oder intransparente Aufgaben hingegen führen schnell zu innerem Widerstand oder Erschöpfung.

Nicht selten wird dieses Verhalten als „anstregend“ interpretiert – dabei ist es Ausdruck eines hohen inneren Anspruchs an Fairness, Logik und Sinn (Baumann & Rothmund, 2016; Martela & Steger, 2016).

Hier prallen zwei Welten aufeinander: das Bedürfnis nach Bedeutung und Authentizität (Frankl, 2009; Wong, 2012) und die Anforderungen einer oft oberflächlichen Arbeitskultur, die Effizienz über Sinn stellt (Lips-Wiersma & Morris, 2009).


Soziale Missverständnisse und unterschätzte Kompetenzen

Neurodivergent denkende Menschen werden im Berufsalltag häufig missverstanden oder unterschätzt. Ihre direkte Art, analytische Tiefe oder Unkonventionalität kann als Distanz oder Kritik gedeutet werden – obwohl sie meist Ausdruck von Präzision, Verantwortungsgefühl und Ehrlichkeit ist. Gleichzeitig fällt es vielen schwer, sich in hierarchischen Strukturen zu bewegen, besonders wenn Autorität mit Willkür oder mangelnder Kompetenz verbunden ist. Solche Spannungsfelder können zu innerem Rückzug, Selbstzweifeln oder sozialer Erschöpfung führen – ein Zustand, der in der Forschung als „masking fatigue“ beschrieben wird: die Erschöpfung, die entsteht, wenn man dauerhaft versucht, „normal“ zu wirken (Williams & Merten, 2019), versetzt das Nervensystem in eine anhaltende Schleife erhöhter Anspannung.

Deswegen leben sie oft in einem inneren Spannungsverhältnis: Sie sehen, was verbessert werden könnte, haben kreative Lösungen und tiefes Verständnis – gleichzeitig fühlen sie sich gebremst durch Strukturen, die dieses Potenzial nicht nutzen. Der damit verbundene Leidensdruck entsteht weniger aus der Neurodivergenz selbst als aus dem fehlenden Passungsverhältnis zwischen Person und Umgebung (Person-Environment Fit). Dieses Konzept ist in der Arbeitspsychologie gut erforscht (vgl. Kristof-Brown et al., 2005): Menschen blühen auf, wenn sie mit ihren Werten, Stärken und Denkweisen im Einklang mit der Arbeitsumgebung stehen.


Besondere Fähigkeiten und Ressourcen

Trotz – oder gerade wegen – dieser Herausforderungen verfügen diese Menschen über herausragende Fähigkeiten:

  • Analytische Tiefe und Mustererkennung – sie sehen Zusammenhänge, wo andere nur Details erkennen.

  • Kreativität und Problemlösekompetenz – ihr Denken ist unkonventionell, vernetzt und originell.

  • Empathie und Wertebewusstsein – viele spüren Stimmungen und Ungerechtigkeiten frühzeitig und möchten positiv gestalten.

  • Hartnäckigkeit und Fokussierung – wenn ein Thema sie begeistert, zeigen sie Ausdauer und Präzision, die ihresgleichen sucht.

Diese Qualitäten sind nicht nur individuell bedeutsam, sondern können für Organisationen eine enorme Ressource sein – wenn Raum für Vielfalt, Sinn und echte Zusammenarbeit geschaffen wird (Sonne & Evans, 2020).


Fazit

Neurodivergente Menschen bringen kein „Problem“ in ein System – sie spiegeln es. Sie zeigen, wo Prozesse entmenschlicht, Kommunikation oberflächlich oder Werte aus dem Gleichgewicht geraten sind. Ihre Perspektive ist ein Geschenk – aber nur dort, wo sie gesehen, verstanden und integriert werden darf. In einer Arbeitswelt, die Vielfalt nicht nur toleriert, sondern nutzt, könnten diese Menschen zu den wertvollsten Gestalter:innen unserer Zeit gehören.

Literatur

Aron, E. N. (2012). The highly sensitive person: How

to thrive when the world overwhelms you. Kensington Publishing.


Baumann, I., & Rothmund, T. (2016). Justice sensitivity as a personality trait: A review of recent findings and perspectives. Social Justice Research, 29(1), 1–28. https://doi.org/10.1007/s11211-016-0250-x


Frankl, V. E. (2009). …trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (Neuaufl.). Beltz.


Kristof-Brown, A. L., Zimmerman, R. D., & Johnson, E. C. (2005). Consequences of individuals’ fit at work: A meta-analysis of person–job, person–organization, person–group, and person–supervisor fit. Personnel Psychology, 58(2), 281–342. https://doi.org/10.1111/j.1744-6570.2005.00672.x


Lips-Wiersma, M., & Morris, L. (2009). Discriminating between “meaningful work” and the “management of meaning.” Journal of Business Ethics, 88(3), 491–511. https://doi.org/10.1007/s10551-009-0118-9


Martela, F., & Steger, M. F. (2016). The three meanings of meaning in life: Distinguishing coherence, purpose, and significance. Journal of Positive Psychology, 11(5), 531–545. https://doi.org/10.1080/17439760.2015.1137623


Roth, G. (2017). Fühlen, Denken, Handeln: Wie das Gehirn unser Verhalten steuert (9. Aufl.). Klett-Cotta.


Sonne, T., & Evans, B. (2020). Neurodiversity in the workplace: Research evidence and practical implications. Harvard Business Review.


Williams, J., & Merten, M. J. (2019). Neurodiversity and inclusion at work: A systematic review of current research and practice. Journal of Vocational Rehabilitation, 51(2), 125–138. https://doi.org/10.3233/JVR-191036


Wong, P. T. P. (2012). Toward a dual-systems model of what makes life worth living. In P. T. P. Wong (Ed.), The human quest for meaning: Theories, research, and applications (2nd ed., pp. 3–22). Routledge.


 
 
 

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