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Vorstellungskraft aktiviert das Nervensystem – Warum Lernen innere Bilder braucht

  • Autorenbild: Sonja Rosenbaum
    Sonja Rosenbaum
  • 11. Nov.
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 19. Nov.


Lernen ist kein rein kognitiver Prozess – es ist ein körperliches, emotionales und sinnliches Geschehen. Jede neue Erfahrung verknüpft Wahrnehmung, Bewegung und Gefühl zu einem neuronalen Muster. Wenn wir uns etwas vorstellen, das wir lernen oder erreichen möchten, aktiviert das Gehirn diese Muster erneut – als würden wir die Erfahrung tatsächlich machen.

Vorstellungskraft ist deshalb kein bloßes „Gedankenspiel“, sondern ein neurobiologisch wirksamer Mechanismus, der Lernen, Gedächtnis und Motivation beeinflusst.

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Neuropsychologische Grundlagen: Wie Vorstellung Lernen vorbereitet

In der Neuropsychologie spricht man von mentaler Simulation. Das bedeutet: Wenn wir uns eine Handlung, eine Situation oder ein Ziel vorstellen, aktiviert das Gehirn nahezu dieselben neuronalen Areale wie bei der tatsächlichen Ausführung (Jeannerod, 2001; Kosslyn et al., 2001).

Dabei arbeiten sensorische, emotionale und motorische Systeme eng zusammen – ein Prozess, den Barsalou (2008) als grounded cognition beschreibt. Lernen entsteht demnach nicht durch reine Informationsaufnahme, sondern durch die Verknüpfung von Sinneserfahrung, Emotion und Bedeutung.


Je stärker diese Verknüpfungen sind, desto tiefer werden Inhalte gespeichert. Vorstellungen erzeugen physiologische Erregungsmuster, die das Nervensystem in Lernbereitschaft versetzen: Pupillen weiten sich, Herzschlag und Aufmerksamkeit steigen, und Dopamin wird ausgeschüttet – das neurochemische Signal für Erwartung und Motivation (Schultz, 2016).


So wird die Vorstellung zur Vorbereitung auf Erfahrung: Das Gehirn simuliert, wie Lernen sich anfühlt, noch bevor es tatsächlich geschieht.



Sensorische Assoziationen: Lernen durch Aktivierung aller Sinne

In deiner Grafik werden die Sinne – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen – als „Einstiegspunkte“ der Vorstellungskraft dargestellt. Genau hier liegt der Schlüssel zum Lernen: Je mehr Sinneskanäle an einer Vorstellung beteiligt sind, desto mehr neuronale Netzwerke werden aktiviert.


Diese multisensorische Aktivierung ist neuropsychologisch hoch wirksam:


  • Visuelle Assoziationen (innere Bilder, Farben, Symbole) stimulieren den visuellen Kortex.

  • Auditive Assoziationen (Ton, Rhythmus, Klang) aktivieren den auditorischen Cortex.

  • Körperliche Assoziationen (Bewegung, Haltung, Temperatur) beziehen den somatosensorischen und motorischen Cortex ein.

  • Emotionale Assoziationen werden über das limbische System integriert und entscheiden, ob etwas als bedeutsam empfunden wird.


Wenn Lernende eine neue Information nicht nur denken, sondern spüren, sehen oder hören, wird sie im Gehirn an mehrere Netzwerke gekoppelt – sie wird dadurch stabiler und transferfähiger.


Das erklärt, warum Lernmethoden, die Vorstellungskraft einbeziehen – etwa mentales Training, Visualisierungen oder imaginative Übungen – nachhaltiger wirken als rein kognitive Ansätze (Driskell et al., 1994).



Aufmerksamkeit und Motivation: Wie Vorstellungskraft das Ziel im Gehirn verankert

Neurobiologisch betrachtet lenkt Vorstellungskraft Aufmerksamkeit.

Wenn jemand sich ein Ziel konkret vorstellt, wird das dopaminerge Belohnungssystem aktiv – insbesondere das Striatum und der präfrontale Cortex (Pessoa, 2009). Diese Aktivierung signalisiert dem Gehirn: Das ist wichtig.

Aufmerksamkeit und Wahrnehmung werden automatisch auf Reize gelenkt, die mit der Vorstellung übereinstimmen.


So entsteht ein „Aufmerksamkeitsfilter“ (Corbetta & Shulman, 2002), der Lernen effizienter macht:

Das Nervensystem unterscheidet zwischen relevanten und irrelevanten Reizen und richtet Energie auf das, was zum Ziel passt.

Deshalb sind Schüler:innen oder Coachees, die eine klare, sinnlich erlebbare Vorstellung von ihrem Ziel haben, konzentrierter, ausdauernder und emotional engagierter.


Im Lernkontext heißt das: Vorstellungskraft aktiviert nicht nur das Gedächtnis, sondern motiviert durch emotionale Bedeutung.



Anwendung im Coaching und Lernen: Vom mentalen Bild zum Verhalten

In Coaching- und Bildungsprozessen kann die Vorstellungskraft gezielt eingesetzt werden, um neuronale Aktivierung und Lerntransfer zu fördern.

Fragen, die sensorische und emotionale Ebenen ansprechen, führen zu einer tieferen Verarbeitung:


  • Wie wird es sich anfühlen, wenn du diese Fähigkeit sicher beherrschst?

  • Was siehst du vor dir, wenn du an den Moment des Gelingens denkst?

  • Welche Bewegung oder Körperhaltung passt zu diesem Zustand?


Diese Art des Denkens fördert die Selbstwirksamkeit: Menschen erleben ihr Ziel als bereits spürbar – und das Nervensystem reagiert entsprechend. Studien zeigen, dass mentale Simulation und Visualisierung Leistung, Gedächtnisabruf und Handlungssicherheit signifikant verbessern (Driskell et al., 1994; Cumming & Williams, 2012).


Aus systemisch-integrativer Sicht lässt sich sagen: Vorstellungskraft verknüpft die innere Erfahrung (Bottom-up) mit der bewussten Zielsteuerung (Top-down). Dadurch entsteht ein neuronaler „Kreislauf der Kohärenz“: Denken, Fühlen und Handeln richten sich auf dasselbe Ziel.



Fazit: Lernen beginnt in der Vorstellung


Lernen ist die Kunst, aus Erfahrung Zukunft zu gestalten.

Vorstellungskraft ist dabei der erste Lernschritt – sie aktiviert das Nervensystem, richtet Aufmerksamkeit auf das Ziel und verbindet Sinneseindrücke, Emotionen und Handlungsimpulse zu einem kohärenten Bild.


Wer lernt, braucht also nicht nur Wissen, sondern eine innere Erfahrung dessen, was möglich ist.

Im Coaching, in Schule und Weiterbildung kann genau hier angesetzt werden: Indem Lernende eingeladen werden, ihr Ziel zu sehen, zu fühlen und zu erleben, bevor es Realität wird.


So entsteht Lernen nicht aus Druck, sondern aus neuronaler Resonanz.

Vorstellungskraft macht Lernen lebendig – und bereitet das Gehirn auf Veränderung vor.



Literatur


Barsalou, L. W. (2008). Grounded cognition. Annual Review of Psychology, 59, 617–645. https://doi.org/10.1146/annurev.psych.59.103006.093639

Corbetta, M., & Shulman, G. L. (2002). Control of goal-directed and stimulus-driven attention in the brain. Nature Reviews Neuroscience, 3(3), 201–215. https://doi.org/10.1038/nrn755

Cumming, J., & Williams, S. E. (2012). The role of imagery in performance. In S. Murphy (Ed.), The Oxford handbook of sport and performance psychology (pp. 213–232). Oxford University Press.

Decety, J., & Grèzes, J. (2006). The power of simulation: Imagining one’s own and other’s behavior. Brain Research, 1079(1), 4–14. https://doi.org/10.1016/j.brainres.2005.12.115

Driskell, J. E., Copper, C., & Moran, A. (1994). Does mental practice enhance performance? Journal of Applied Psychology, 79(4), 481–492. https://doi.org/10.1037/0021-9010.79.4.481

Jeannerod, M. (2001). Neural simulation of action: A unifying mechanism for motor cognition. NeuroImage, 14(1 Pt 2), S103–S109. https://doi.org/10.1006/nimg.2001.0832

Kosslyn, S. M., Thompson, W. L., & Alpert, N. M. (2001). Neural systems shared by visual imagery and visual perception: A positron emission tomography study. NeuroImage, 14(1), 1–10. https://doi.org/10.1006/nimg.2001.0785

Pessoa, L. (2009). How do emotion and motivation direct executive control? Trends in Cognitive Sciences, 13(4), 160–166. https://doi.org/10.1016/j.tics.2009.01.006

Schultz, W. (2016). Dopamine reward prediction-error signaling: A two-component response. Nature Reviews Neuroscience, 17(3), 183–195. https://doi.org/10.1038/nrn.2015.26

 
 
 

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