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Neurodivergentes Denken – Warum wir andere Denkmuster brauchen

  • Autorenbild: Sonja Rosenbaum
    Sonja Rosenbaum
  • 8. Nov.
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 12. Nov.

Was bedeutet „neurodivergent“?

Der Begriff Neurodivergenz beschreibt Unterschiede in der Art, wie das Gehirn Informationen verarbeitet, denkt und die Welt wahrnimmt. Ursprünglich wurde der Begriff von der Soziologin Judy Singer (1999) geprägt, die ihn als Gegenmodell zur Pathologisierung neurologischer Unterschiede verstand. Neurodivergenz umfasst z. B. Autismus, ADHS, Dyslexie, Dyspraxie oder Hochbegabung – also kognitive Varianten, die vom sogenannten neurotypischen Durchschnitt abweichen (Armstrong, 2010; Kapp, 2020).

Im Gegensatz zum medizinischen Defizitmodell betont der Neurodiversitätsansatz, dass diese Unterschiede Teil der natürlichen menschlichen Vielfalt sind und wertvolle Perspektiven und Denkstile mit sich bringen (den Houting, 2019).


Wie unterscheidet sich neurodivergentes Denken vom „normalen“ Denken?

Neurotypisches Denken folgt meist linearen, kontextorientierten und sozialen Mustern – es zielt auf Anpassung, Stabilität und Harmonie.Neurodivergentes Denken hingegen ist oft assoziativ, visuell-logisch und systemisch-analytisch. Es erkennt Muster, sucht nach Sinnzusammenhängen und denkt „vernetzt statt sequenziell“ (Baron-Cohen, 2020; Fitzgerald, 2004).

Diese Unterschiede zeigen sich auf mehreren Ebenen:

Aspekt

Neurotypisches Denken

Neurodivergentes Denken

Verarbeitung

Linear, schrittweise

Vernetzt, simultan, bildhaft oder logisch-strukturell

Aufmerksamkeit

Selektiv und kontrolliert

Hyperfokussiert auf Interessen oder Sinnfragen

Motivation

Extern reguliert (Ziele, Erwartungen)

Intrinsisch – Energie fließt bei Sinn, Interesse oder Gerechtigkeit

Kommunikation

Kontextabhängig, sozial eingebettet

Direkt, präzise, manchmal nonkonform

Emotion & Wahrnehmung

Gleichmäßiger, sozial abgeglichen

Intensiv, detailreich, sensorisch feinfühlig

Forschungen zeigen, dass neurodivergente Personen Informationen häufig tiefgreifender, aber weniger selektiv verarbeiten. Das führt einerseits zu erhöhter Kreativität und Mustererkennung, andererseits zu Reizüberflutung oder sozialer Erschöpfung (Robertson & Baron-Cohen, 2017; Mottron, 2021).



Die besondere Stärke: Tiefes, sinnorientiertes und vernetztes Denken

Neurodivergentes Denken zeichnet sich durch hohe kognitive Tiefe und integratives Erfassen von Zusammenhängenaus. Studien zeigen, dass viele neurodivergente Menschen komplexe Systeme intuitiv verstehen, weil ihr Gehirn stärker auf Muster- und Regelentdeckung ausgerichtet ist (Baron-Cohen, 2020; Austin & Pisano, 2017).

Gerade diese Art zu denken bringt Qualitäten hervor, die in einer linearen Welt oft übersehen werden:

  • Systemisches Denken: Fähigkeit, Wechselwirkungen zu erkennen

  • Sinnorientierung: Motivation aus Interesse und ethischem Verständnis

  • Kreativität & Innovation: originelle Lösungen durch unkonventionelle Assoziationen

Diese Eigenschaften sind in einer Gesellschaft, die auf Wandel und Innovation angewiesen ist, keine Randerscheinungen – sondern Zukunftskompetenzen (Austin & Pisano, 2017).


Warum unsere Gesellschaft neurodivergentes Denken braucht

In Organisationen, Forschung und Bildung zeigt sich zunehmend: Homogene Denkmuster erzeugen blinde Flecken. Komplexe Probleme – etwa in Nachhaltigkeit, Bildung oder Technologie – verlangen Perspektivenvielfalt (Caspersen & Porsch, 2021).

Neurodivergente Menschen bringen nicht nur neue Ideen ein, sondern verändern die Art, wie Systeme denken: Sie erkennen Widersprüche, hinterfragen Automatismen und schaffen neue Ordnungen des Wissens.

Damit diese Potenziale wirken können, braucht es Strukturen, die nicht auf Anpassung, sondern auf Komplementarität und Akzeptanz kognitiver Vielfalt ausgerichtet sind (den Houting, 2019).


Fazit

Neurodivergentes Denken ist kein Defizit, sondern eine evolutionäre Ressource für kollektive Intelligenz. Es erinnert uns daran, dass Fortschritt nicht aus Gleichförmigkeit entsteht, sondern aus Unterschieden, die sich gegenseitig ergänzen.

Wenn wir lernen, diese Denkvielfalt zu verstehen, fördern wir eine Gesellschaft, in der Innovation, Empathie und Sinnorientierung nicht Gegensätze sind, sondern Ausdruck derselben menschlichen Vielfalt.


Literaturverzeichnis

  • Armstrong, T. (2010). Neurodiversity: Discovering the extraordinary gifts of autism, ADHD, dyslexia, and other brain differences. Da Capo Lifelong Books.

  • Austin, R. D., & Pisano, G. P. (2017). Neurodiversity as a competitive advantage. Harvard Business Review, 95(3), 96–103.

  • Baron-Cohen, S. (2020). The pattern seekers: A new theory of human invention. Allen Lane.

  • den Houting, J. (2019). Neurodiversity: An insider’s perspective. Autism, 23(2), 271–273. https://doi.org/10.1177/1362361318820762

  • Fitzgerald, M. (2004). Autism and creativity: Is there a link between autism in men and exceptional ability?Brunner-Routledge.

  • Kapp, S. K. (Ed.). (2020). Autistic community and the neurodiversity movement: Stories from the frontline. Palgrave Macmillan.

  • Mottron, L. (2021). A radical change in our autism research strategy is needed: Back to prototypes. Autism Research, 14(11), 2213–2220. https://doi.org/10.1002/aur.2609

  • Robertson, C. E., & Baron-Cohen, S. (2017). Sensory perception in autism. Nature Reviews Neuroscience, 18(11), 671–684. https://doi.org/10.1038/nrn.2017.112

  • Singer, J. (1999). Why can’t you be normal for once in your life? From a “problem with no name” to the emergence of a new category of difference. In M. Corker & S. French (Eds.), Disability Discourse (pp. 59–67). Open University Press.

  • Caspersen, J., & Porsch, R. (2021). Neurodiversity and the future of education. Frontiers in Education, 6, Article 699097. https://doi.org/10.3389/feduc.2021.699097

 
 
 

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